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© Michael Handelmann | SuperIllu
Politik-Interview

Reiner Haseloff (CDU): Erinnerungen an die Wendezeit

Als wir Sachsen-Anhalts Ministerpräsidenten Reiner Haseloff (CDU) zu dem Kriegsschock befragen, kommen bei ihm dramatische Erinnerungen an die Wendezeit hoch. Außerdem sprachen wir mit ihm darüber, wie mehr Ostdeutsche in Führungspositionen kommen könnten. Und über die neue Intel-Chipfabrik in Magdeburg.

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Reiner Haseloff, 68, am berühmtesten Ort seiner Heimatstadt Wittenberg: in der Schlosskirche, in der Martin Luther beerdigt ist

Herr Haseloff, viele Menschen blicken mit Angst und Sorge auf Russlands Krieg in der Ukraine. Was kommt da auf uns zu?

Das Wort „Zeitenwende“ ist auf jeden Fall zutreffend. Dass es nach dem Drama auf dem Balkan mitten in Europa noch einmal einen solchen großen Krieg mit schweren Waffen geben könnte, konnten wir uns nicht vorstellen. Wir müssen auch feststellen, dass alle Sicherheitsgarantien, die die westlichen Staaten der Ukraine einst gaben, als sie 1994 ihre Atomwaffen an Russland abgab, und alle Sanktionen, die es seit 2014 nach Russlands Aggression gegen die Ukraine und der Annexion der Krim gibt, den Diktator Putin nicht davon abgehalten haben, jetzt mutwillig diesen Angriffskrieg zu beginnen. Nach dem Ende des Kalten Kriegs ist es, wie wir heute sehen, leider nicht gelungen, eine dauerhafte Friedensordnung in Europa zu schaffen.

„Zeitenwende“ – das Wort erinnert uns an die Wende im Osten Deutschlands 1989/90, als auch alles anders wurde...

Der damalige friedliche Systemwechsel gab uns Hoffnung, dass es auch zukünftig immer so sein wird. Die schnelle Wiedervereinigung 1990 war aber ein absoluter Glücksfall in einem ganz engen Zeitfenster. Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich im Frühjahr 1990 von einer CDU-Vorstandssitzung in Magdeburg nach Hause Richtung Wittenberg fuhr – und bei Zerbst im Autoradio die Nachricht hörte, dass der sowjetische Präsident Gorbatschow der Erweiterung der NATO bis zur Ostgrenze an Oder und Neiße zugestimmt habe. Das war ein sehr wichtiger Schritt Richtung Wiedervereinigung, den viele Menschen gar nicht so bewusst wahrgenommen haben. Ich erinnere mich auch noch gut an die Tage während des Augustputsches in Moskau 1991.

Den meisten Westdeutschen war damals sicher nicht klar, wie nah wir im Osten an den Geschehnissen dran waren; mit nach wie vor sehr vielen russischen Soldaten im Land und einer vorübergehenden Aussetzung ihres Abzugs. Hätten die Putschisten, die ihr Sowjetreich retten wollten, damals gewonnen, hätte es uns in Ostdeutschland genauso ergehen können wie jetzt der Ukraine. Es stimmt: Wir Ostdeutschen kennen die politische Klasse Russlands besser als die meisten Westdeutschen. Aber das heißt ja nicht, dass wir uns über sie Illusionen machen. Dass wir sie besser kennen, bedeutet nicht, dass wir Verständnis für Putins Diktatur oder gar seinen verbrecherischen Krieg gegen die Ukraine hätten. Die Ereignisse in der Ukraine zeigen uns, wie froh wir sein können, dass die russischen Truppen damals unser Land verlassen haben.

Wie viel wird uns das alles kosten?

Wir müssen uns darauf einstellen, dass unser Lebensstandard sinkt, je nachdem, wie es militärisch in der Ukraine weitergeht. Zäsuren, biografische Brüche und soziale Härten sind vielen Ostdeutschen aufgrund ihrer Erfahrungen nach 1990 nicht unbekannt. Wichtig ist, dass wir offen und lernfähig an die Herausforderungen herangehen.

Es hätte uns damals genauso ergehen können wie jetzt der Ukraine.

Reiner Haseloff

Anderes Thema: Eine neue Studie des MDR und der Universität Leipzig belegt, dass es immer noch viel zu wenig Ostdeutsche in Führungspositionen gibt – vor allem in der Wirtschaft, den Hochschulen und der Justiz. Nur in der Politik sind es etwas mehr – Sie sind dafür das beste Beispiel. Als gebürtiger Ostdeutscher sind Sie aktuell der dienstälteste Ministerpräsident eines deutschen Bundeslandes...

So gut schneidet unsere eigene Landesregierung in Sachsen-Anhalt aber auch nicht ab, da will ich gar nichts beschönigen. Von den Mitgliedern unseres Regierungskabinetts sind ungefähr 40 Prozent aus dem Osten. Für mich ist bei der Entscheidung, wer Minister wird, bestimmt nicht das wichtigste Kriterium, ob eine oder einer aus dem Osten oder dem Westen kommt. Viele der Westdeutschen, die bei uns im Osten in führenden Funktionen sind, sind schon seit drei Jahrzehnten hier. Der Osten ist ihre Heimat geworden, für die sie sich genauso einsetzen wie diejenigen, die hier geboren sind. Ich will das Problem aber nicht kleinreden.

In 30 Jahren in leitenden Funktionen habe ich viele Gespräche mit Bewerbern um Stellen geführt – und immer wieder erlebt, dass sich ostdeutsche Bewerber dort oft wesentlich bescheidener und zurückhaltender präsentieren als westdeutsche – rhetorisch, vom Auftreten und bei der Beschreibung ihrer Ziele. Das betrifft auch noch viele in der jungen Generation, die jetzt von der Universität in die Jobs kommt.

Könnte eine Ostquote helfen – also eine Vorgabe bei der Vergabe von Leitungsposten, einen bestimmen Prozentsatz Ostdeutsche zu berücksichtigen?

Eine Ostquote bringt nichts, man muss an den Wurzeln ansetzen. Einiges wird die Zeit regeln – zum Beispiel in der Justiz. Da gehen nun langsam all jene Juristen aus dem Westen in den Ruhestand, die nach der friedlichen Revolution in den Osten kamen. Ich bin mir sicher, dass mit der Neubesetzung der Stellen nach deren Pensionierung viele junge Ostdeutsche nachrücken. In der Wirtschaft ist das schwieriger. Fast alle Unternehmenszentralen sind im Westen Deutschlands und damit auch ein Großteil der Führungspositionen. Auch diejenigen, die dort die Personalentscheidungen treffen, sitzen im Westen. Wer als Ostdeutscher in diesen Firmen Karriere machen will, muss zumindest zeitweilig „rübergehen“. Das wird den Aufstieg von mehr Ostdeutschen in Führungspositionen weiterhin erschweren.

Auch im akademischen Bereich, bei Führungspositionen in der Wissenschaft und an den Universitäten ist wenig Besserung in Sicht. Hier punkten bei der Besetzung von Führungsposten nach wie vor gerade diejenigen mit glänzenden Auslandsstudien in den USA, in Harvard, Stanford, Yale oder an europäischen Elite-Unis, an die es meist nur Kinder wohlhabender und gut informierter Eltern schaffen. Das wird sich leider auch nicht so schnell ändern. Hier brauchen wir mehr Angebote an Stipendien, die es auch Studenten aus ärmeren Familien leichter machen, frühzeitig die Referenzen einzusammeln, die eine Karriere bis ganz nach oben erleichtern.

Die neue Chipfabrik ist Teil der Strategie, uns unabhängiger zu machen von Lieferanten in Fernost, wo oft Diktaturen herrschen.

Reiner Haseloff
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Sachsen-Anhalts Ministerpräsiden Haseloff im Interview mit Politikchef Gerald Praschl

Sachsen-Anhalt konnte gerade einen großen Erfolg feiern. Der Weltkonzern Intel hat entschieden, in der Landeshauptstadt Magdeburg eine große Chipfabrik zu bauen, mit mehreren Zehntausend neuen Arbeitsplätzen. Mehr als 70 Standorte in ganz Europa waren für die Fabrik im Gespräch. Warum hat Magdeburg das Rennen gemacht?

Ganz am Anfang steht das Wollen der Menschen vor Ort. Magdeburg hat es gewollt und sich intensiv darum bemüht. Die neue Chipfabrik ist nicht nur für Magdeburg wichtig, sondern für ganz Deutschland, für ganz Europa. Sie ist Teil der Strategie, uns wirtschaftlich wieder unabhängiger zu machen von Lieferanten in Fernost, wo oft, wie in China, Diktaturen herrschen, mit all den damit verbundenen Risiken. Diesen Diktaturen können wir nicht vertrauen.

Die EU fördert deshalb, dass solche wichtigen Produktionen wieder nach Europa zurückkommen, auch das hat uns Rückenwind gegeben. Wichtig für die Entscheidung von Intel, nach Magdeburg zu gehen, war eine gute Verkehrsanbindung, unsere gute Lage ziemlich genau in der Mitte der EU. Und die Tatsache, dass wir das Projekt – sowohl in der Staatskanzlei als auch im Magdeburger Rathaus von Anfang an als Chefsache angesehen haben. Wir haben viele Erfahrungen mit Großinvestitionen. Und viele Investoren haben gute Erfahrungen mit uns. Nirgendwo sonst ist binnen einer Generation pro Kopf mehr Geld in neue Infrastruktur und neue Fabriken investiert worden wie im Osten Deutschlands.

Glauben Sie, der Bau der Intel-Fabrik in Magdeburg geht genauso schnell wie das ihr Amtskollege Dietmar Woidke in Brandenburg mit dem Tesla-Werk in Grünheide geschafft hat?

Anders als Tesla erwartet Intel nicht, dass Bau und Genehmigungsverfahren parallel laufen, das entspricht nicht der Firmenphilosophie. Wir werden das Genehmigungsverfahren wie immer korrekt, zügig und professionell gestalten. Wir wissen nach 30 Jahren, wie wir es machen müssen. Intel legt Wert auf Nachhaltigkeit, will selbst möglichst „grüne“ Chips produzieren, weil es künftig ein Wettbewerbsvorteil sein wird, ressourcenschonend und energiesparend zu produzieren. 

Magdeburgs neuer Stolz

Im Mai 2022 verkündete der Weltkonzern Intel, gleich zwei riesige Chipfabriken (hier eine Modellzeichnung) in Magdeburg in Sachsen-Anhalt zu errichten. Intel will dafür 17 Milliarden Euro investieren, rund 10 000 neue Jobs schaffen. Der Baubeginn ist für 2023 geplant, 2027 soll die Produktion beginnen. Es handelt sich um die größte Chipfabrik in Europa und die größte Firmen-Ansiedlung in Deutschland seit Jahrzehnten. EU und Bundesregierung fördern den Bau mit mehreren Milliarden Euro. Ziel ist, Europa unabhängiger von Mikrochips aus China zu machen.