Menü
SUPERillu
Made with in Offenburg
© M. Handelmann | SuperIllu
Reportage

SKW Stickstoffwerke Piesteritz: Wie eine Fabrik durch die Gaskrise kommt

Bei privaten Haushalten geht es um die Kosten fürs Heizen im Winter – bei vielen Industriebetrieben um die nackte Existenz. So wie in Deutschlands größter Düngemittelfabrik, SKW Piesteritz in Sachsen-Anhalt, die SuperIllu jetzt besuchte. Ein Vor-Ort-Report über die Not in der Gaskrise.

© M. Handelmann | SuperIllu
Geschäftsführer Carsten Franzke, 57, ist schon 40 Jahre im Betrieb, fing zu DDR-Zeiten im damaligen VEB Kombinat Agrochemie als Lehrling an.

Einer der 50 größten Industriebetriebe

Die SKW Stickstoffwerke Piesteritz in Sachsen-Anhalt gehören zu den 50 größten Industriebetrieben im Osten Deutschlands. Dass die Erdgaspreise sich infolge von Russlands Lieferstopp fast verzehnfacht haben, trifft den Betrieb besonders hart. „Erdgas ist für uns nicht nur Energielieferant, sondern auch der wichtigste Rohstoff“, erklärt Geschäftsführer Carsten Franzke, 57.

Schon seit den 1970er Jahren werden hier aus Erdgas (chemische Formel CH₄) und dem in der natürlichen Luft enthaltenen Stickstoff (chemisches Element N) in riesigen Mengen Ammoniak (chemische Formel NH3) und Harnstoff (CH₄N₂O) hergestellt, zusammen fast drei Millionen Tonnen pro Jahr. Beide Stoffe sind als Düngemittel in der Landwirtschaft wichtig, daneben auch als Grundstoff in der Chemie-Industrie. Als Adblue ist Harnstoff zudem für den LKW-Verkehr unentbehrlich. „Unser Werk spielt für die Versorgung Deutschlands eine wichtige Rolle, wenn bei uns nichts läuft, geht auch an vielen anderen Stellen in Industrie, Logistik und Landwirtschaft nichts“, sagt Franzke.

Wir hoffen, dass die angekündigten Entlastungspakete auch uns weiterhelfen.

Carsten Franzke, Geschäftsführer des SKW
© M. Handelmann | SuperIllu
Ein Blick über den Agro-Chemiepark Piesteritz. Vorn das industrielle Herz, die großen Hallen und Anlagen von SKW Piesteritz, Deutschlands größtem Düngemittelhersteller

Hohe Preise lassen die Produktion stillstehen

Mitte August 2022 war es fast so weit: Die gesamte Produktion stand still. Am Tag, als die Bundesregierung verkündete, dass auf den ohnehin schon extrem hohen Erdgaspreis künftig auch noch 2,4 Cent pro Kilowattstunde Gasumlage fällig werden sollten, entschied die Werksleitung, die beiden großen Ammoniak-Anlagen, die das Herz des Werkes sind, nach einer regulären Wartung bzw. einer kleinen technischen Störung erst mal nicht wieder hochzufahren. „Wir haben aktuell ohnehin schon bis zu 150 Millionen Euro pro Monat Gaskosten, fast zehnmal soviel wie früher. Mit der Gasumlage wären für uns noch mal 30 Millionen pro Monat draufgekommen. Das war wirtschaftlich einfach nicht mehr zu machen“, so Franzke.

Für ihre Produkte kann SKW bisher nur eingeschränkt Preisaufschläge durchsetzen. So hat sich der Marktpreis für Harnstoff „nur“ etwa verdoppelt. Dieser weltweit für die Landwirtschaft wichtige Düngerstoff wird in vielen Ländern produziert. Ab einem bestimmten Preis lohnt es sich dann für die Abnehmer, ihn eher per Schiff aus Nigeria oder Russland heranzuholen, als aus dem nahen Piesteritz. Besonders pikant: Zu den größten Konkurrenten (siehe Grafik vorherige Seite), die von der Krise bei SKW profitieren, zählen auch zwei große Düngemittelkonzerne aus Russland und Belarus, Azot Novomoskovsk in Russland und Grodno Azot in Belarus, also den beiden Ländern, deren Führungen für den Krieg in der Ukraine verantwortlich sind.

Wichtige Produkte aus Wittenberg

SKW Piesteritz bei Lutherstadt Wittenberg ist nicht nur Deutschlands größtes Düngemittelwerk, sondern auch europaweit vorn dabei. Die Hauptprodukte des Chemiewerks sind Harnstoff, das als gelbes Granulat verkauft und in der Landwirtschaft als Dünger eingesetzt wird – außerdem in flüssiger Form auch als Ad-blue für die Abgasreinigung bei Diesel-Fahrzeugen. Zudem produziert SKW Piesteritz Ammoniak, der ein wichtiger Grundstoff für die chemische Industrie ist. Daneben dient er u. a. als Kältemittel in Kühlanlagen und für die Rauchgasreinigung in Kraftwerken.

© M. Handelmann | SuperIllu
Eine polnische Erntehelferin beim Pflücken von Tomaten, die beheizt mit Abwärme aus dem nahen SKW-Werk hier ganzjährig gut gedeihen.

850 Arbeitsplätze in Gefahr

Wenn bei SKW alles stillsteht, ist aber weit mehr in Gefahr als „nur“ die dortigen 850 Arbeitsplätze. Bis zu 10000 Jobs in der Region hängen direkt oder indirekt am Werk - darunter in etwa 50 Betrieben, die im direkten Umfeld, im Agro-Chemiepark Piesteritz, entstanden. Sie stellen, beliefert von SKW, u.a. chemische Produkte wie verflüssigtes Kohlendioxid her. Ohne Ammoniak und Harnstoff von SKW ginge auch in vielen Betrieben der chemischen Industrie, die z.B. Kleber und Lacke herstellen, kaum noch etwas. Größte Gefahr ist allerdings, dass es wegen des Ausfalls der Produktion zu einem großen Mangel an Düngemitteln und dadurch zu Ernteausfällen kommt. Ohne das in Piesteritz produzierte Ad-blue könnte außerdem die dieselbetriebene LKW-Logistik in Deutschland zusammenbrechen.

© M. Handelmann | SuperIllu
SKW-Verkaufsleiter Swen Eißner mit einem der zwei Hauptprodukte des Werks, Harnstoff-Granulat, das als Dünger gebraucht wird.

"Halbe Kraft" um Gas zu sparen

Daher fuhr SKW eine der zwei Ammoniakanlagen des Werks im September wieder hoch und produziert trotz Verlusten weiter. „Wir können unsere Kunden nicht im Stich lassen und hoffen jetzt darauf, dass die angekündigten Entlastungspakete der Bundesregierung auch uns weiterhelfen“, so Franzke. Wenn SKW das Erdgas statt für aktuell über 150 Euro pro Megawattstunde für knapp die Hälfte kaufen könnte, wäre schon Hoffnung, so Franzke. Im Gegenzug bot SKW der Bundesregierung an, über den Winter weiterhin nur „halbe Kraft“ zu fahren, um Gas zu sparen. Der Einspareffekt wäre erheblich, denn SKW saugt unter Volllast mit 1,4 Millionen Megawattstunden etwa 1,5 Prozent des gesamten deutschen Gasverbrauchs.

© M. Handelmann | SuperIllu
Der ehemalige Landwirtschaftsminister von Sachsen-Anhalt, Helmut Rehhahn, 75, in den Gewächshäusern der Wittenberg Gemüse GmbH.

Gaspreisdeckel für Industriebetriebe

Der aktuelle Plan der Bundesregierung sieht in der Tat für Industriebetriebe einen Gaspreisdeckel vor, der in etwa dem entspricht, was SKW-Geschäftsführer Franzke sich erhofft. Gerettet wären in diesem Fall auch seine Nachbarn im Agro-Chemiepark - zum Beispiel die innovative Wittenberg Gemüse GmbH. Die Geschäftsidee dazu hatte in den 1990er Jahren u.a. der damalige Landwirtschaftsminister von Sachsen-Anhalt, Helmut Rehhahn: Mit Abwärme und dem dort entstehenden Kohlendioxid aus dem SKW-Werk könne man doch in großem Stil Gewächshäuser betreiben. Lange biss kein Investor an, erst 2013 begeisterte sich ein holländisches Agrarunternehmen für die Idee des Ex-Politikers, der heute als Unternehmensberater tätig ist. Dann ging es jedoch schnell. Schon 2014 standen neben der SKW-Fabrik auf 15 Hektar Gewächshäuser, in denen seitdem Tomaten sprießen. Inzwischen wuchs die Firma auf 40 Hektar, produziert mit 350 Mitarbeitern nun auch Paprika und Erdbeeren. Diese schmecken besonders süß und aromatisch, weil sie per Leitung aus dem SKW auch eine zusätzliche Dosis Kohlendioxid abbekommen, was die Fotosynthese in der Pflanze anregt und sie damit zuckerhaltiger macht.

Wenn allerdings bei SKW die Anlagen stillstehen, geht auch in den Gewächshäusern schnell das Licht aus, die Pflanzen würden ohne die Abwärme schlicht erfrieren. „Wir können nur hoffen“, so Helmut Rehhahn, „dass es weitergeht“.