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Nach dem Schienensuizid von Robert Enke

Das Trauma eines Lokführers nach „Personenschaden“

Drei Menschen gerieten unter seine Lock. Rudolf Wilger ist daran zerbrochen. Traumatisiert und selbstmordgefährdet sitzt er jetzt in der Psychiatrie

Drei Menschen sind ihm in wenigen Jahren unter die Lok gekommen. Rudolf Wilger ist daran zerbrochen. Schwer traumatisiert und selbstmordgefährdet sitzt er in der Psychiatrie. Seine Frau versucht alles, damit ihn die schlimmen Erlebnisse nicht immer wieder einholen.

Es gibt Tage, da würde Ingrid Wilger am liebsten alle Fernseher und Radios abschalten und alle Zeitungen im Land aufkaufen, nur damit ihr Mann nichts von der schlimmen Hauptnachricht erfährt. Der 10. November war so ein Tag. Diesmal lautete die Mitteilung: Robert Enke. Suizid - er warf sich vor eine Lok.

Und während alle Welt die tragischen Umstände des Freitodes des bekannten Torhüters betrauert, sitzt Ingrid Wilger auf einem Plastikstuhl in der geschlossenen Psychiatrie der Uniklinik Münster neben ihrem Mann Rudolf.

Sie hält seine Hand. Ganz fest. So wie man mit aller Kraft einen Ertrinkenden über Wasser hält. Sie hat Angst um ihn, weil sie weiß, wie schnell er bei solchen Schreckensmeldungen immer und immer wieder von diesem Strudel hinuntergerissen wird. Hinunter in eine Welt der Horrorbilder. Mit Szenen, in denen Zugbremsen kreischen, Räder auf sandigen Schienen Funken sprühen, Menschen aus dem Nichts heraus mitten auf Bahngleisen stehen, Körper blutig und zerfetzt vor Zügen liegen.

Rudolf Wilger ist Lokführer. Das heißt, er war es. 30 Jahre lang fuhr er im Güter- und Personennahverkehr übers Land. 2002 schied er aus dem Dienst aus, und im August wurde er pensioniert. Seither lebt er von der Eisenbahnerpension und war wer weiß wie oft in geschlossener und offener psychiatrischer Behandlung. Denn Rudolf Wilger ist traumatisiert und suizidgefärdet.

Einmal schon schnitt er sich mit einem Küchenmesser die Pulsadern auf, weil er keinen anderen Ausweg mehr sah aus dieser Schreckenswelt, die sein Leben seit jenem Julitag 1993 bestimmt. „Dieser 17-jährige Junge hockte im Gleisbett und hat mir in die Augen geguckt, richtig in die Augen“, wird er später immer und immer wieder diesen ersten „Schienensuizid“ beschreiben. „Viel später“, sagt seine Frau. „Nach diesem ersten Unglück hat Rudi viel verdrängt. Er wollte doch sofort wieder auf die Lok zurück, kein Weichei sein ...“

Erst Jahre später wird er in einem Gespräch zugeben, wie sehr ihn das Erlebte quält: „Der Blick des Jungen, das Platschen des Körpers ... Die gucken einen an, und man kann nichts machen. Man hört nur, wie es kracht und wie ein  Mensch zermahlen wird.“

Dazu muss man wissen, dass zu jener Zeit, als dieses Unglück geschah, die Lokführer auch noch die Anweisung hatten, nach einem „Unfall mit Personenschaden“, wie ein „Schienensuizid“ im Beamtendeutsch der Eisenbahn umschrieben wird, die Unfallstelle zu sichern und den Toten, bzw. was von ihm noch übrig war, abzudecken. „Ich verließ die Lok, lief zurück. Überall Leichenteile. Sie lagen verstreut in einem Radius von 100 Metern ...“

Nahezu 1000 Menschen werfen sich in Deutschland jedes Jahr vor einen Zug. Und: Jeder Lokführer klagt nach so einem Unglück über posttraumatische Belastungsstörungen mit überfallartigen Angst- und Panikattacken. Nach einer Statistik der Lotte-Köhler-Stiftung in München ist jeder Lokführer zwei bis drei Mal in seiner Laufbahn von einem „Schienensuizid“ betroffen. Manche haben Glück und es trifft sie nie, andere gleich dreimal in ihrer Laufbahn. Rudolf Wilger ist es geschehen.

Am 30. April 1996 zum zweiten Mal. In seinen Erinnerungen berichtet er: „Ich fahre die Strecke Münster-Warendorf. Am Brückenbauwerk tritt ein Mann hervor. Er legt sich mit dem Bauch auf die rechte Schiene. Ich bremse. Achtungssignal. Nein! Nicht schon wiiiieder!“ Diese Zeilen hat er später in der Klinik aufgeschrieben. Das sollte helfen, die Seele von den Qualen zu befreien.

Doch wie soll das gehen, wenn einen das Unglück immer und immer wieder verfolgt?

Im Februar 1997 geschah es mit dem Triebwagen RB 3578 auf einem unbeschrankten Bahnübergang bei Telgte erneut. Wilger rollt in einen Traktor. Der Führerstand wird von der Gabel des Traktors buchstäblich aufgespießt. Wilger kann sich nur mit einem Sprung ins Freie retten. Und wider frisst er seine Erlebnisse in sich hinein. Bis es dann im Juni 2000 in Münster zur nächsten Beinahe-Katastrophe kommt. Ein Reisender ist in den schmalen Zwischenraum zwischen Bahnsteig und Schiene gefallen. Lokführer Wilger kann nur mit einer Schnellbremsung das Unglück verhindern. Zwei Jahre später dann kann Wilger seine Lok an einem Bahnhof nicht mehr zu Stehen bringen. Herbstlaub und Nässe hatten die Schienen in eine Rutschbahn verwandelt. Erst gut einen Kilometer hinter dem Bahnhof kommt der Zug zum stehen ...

Ingrid Wilger: „Rudolf war am Ende. Bei geringster Belastung bekam er Schweißausbrüche. Er tigerte durch die Wohnung, war ständig gereizt, plagte sich mit Selbstvorwürfen. Wir hielten es alle nicht mehr aus. Und endlich gab er seine Vorbehalte gegen diese Seelenklempner, wie er sie damals nannte, auf. Er bekam eine Einweisung in die Klinik in Bad Malente.“

Als Einschätzung heißt es im Mai 2003 nach einem fünfwöchigen Aufenthalt im Entlassungsbericht: „Auf Grund der ausgeprägten posttraumatischen Belastungsstörungen wegen der erlittenen Dienstunfälle wird der Patient unseres Erachtens seinen Beruf als Lokführer nicht mehr ausüben können ...“

Das ist eine Diagnose. Eine Heilung ist das nicht. Denn immer wieder, wenn Rudolf Wilger von einem Bahnunfall erfährt, gleitet er wieder hinein in diese schreckliche Welt seiner Erinnerungen. Ingrid Wilger: „Die einzige Hilfe, die ich ihm da geben kann, ist für ihn da zu sein.“

Am Tage, als die schlimme Nachricht vom Suizid des traurigen Fußballstars in der Zeitung stand, stellte sie ein kleines gerahmtes Sprüchlein ans Bett ihres Mannes. Darauf stand: „Mögest du leben so lange du willst. Mögest du wollen, so lange lebst ...“

Anmerkung der Redaktion: Sollten auch Sie depressiv sein, Selbstmord-Gedanken hegen, bitte kontaktieren Sie die Telefonseelsorge unter der kostenlosen Hotline 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222